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Hotel Roi de Sicile
Von La Bréauté an, wo er aufwachte, schlief der Russe nicht mehr. Allerdings war der Expreßzug Le Havre-Paris überfüllt. Maigret und sein Begleiter blieben auf dem Gang; jeder stand vor einer Tür und blickte auf die vorbeiziehende, undeutliche Landschaft, die die Nacht allmählich verschlang.
Der Mann im Trenchcoat zeigte sich kein einziges Mal durch die Gegenwart des Polizeibeamten beunruhigt. Auf dem Bahnhof Saint-Lazare machte er keinerlei Versuch, ihm im Schutz der Menschenmenge zu entkommen.
Im Gegenteil, er stieg langsam die große Treppe hinunter, stellte fest, daß seine Zigarettenpackung naß war, kaufte am Bahnhofskiosk eine neue und schien die Schenke betreten zu wollen. Doch er besann sich und ging schleppend die Straße entlang, eine bedrückende Gestalt, die so verlassen und mutlos wirkte, daß ihr alles gleichgültig zu sein schien.
Vom Saint-Lazare bis zum Rathaus ist es weit. Man muß das ganze Stadtzentrum durchqueren, und abends zwischen sechs und sieben strömen Fußgänger in großen Schwärmen über die Bürgersteige, und die Autoschlangen bewegen sich so langsam und gleichmäßig weiter wie das Blut in den Adern.
Mit seinen schmalen Schultern, seinem strenggegürteten Regenmantel, der voller Schmutz- und Fettflecken war, seinen abgetretenen Schuhen stapfte der Mann durch die hellerleuchteten und bewegten Straßen, wurde angerempelt, wankte weiter, ohne stehenzubleiben oder sich umzusehen.
Er nahm den kürzesten Weg über die Rue du 4-Septembre und durch die Hallen, woraus deutlich wurde, daß er die Strecke kannte.
Er erreichte das ›Getto‹ von Paris, dessen Kern die Rue des Rosiers bildet, kam an Läden mit jiddischen Schriftzügen vorbei, an koscheren Metzgereien und an Auslagen mit ungesäuertem Brot.
An einer Straßenbiegung in der Nähe eines langen und finsteren Durchgangs, der einem Tunnel glich, wollte eine Frau ihn unterhaken, aber ohne daß er ein Wort gesagt hätte, ließ sie, zweifellos eingeschüchtert, von ihm ab.
Schließlich landete er in der Rue du Roi de Sicile, einer unregelmäßig verlaufenden Straße, von der Sackgassen, Gäßchen und wimmelnde Hinterhöfe abgingen, halb Judenviertel, halb schon polnische Kolonie, und nach zweihundert Metern verschwand er im Flur eines Hotels.
Fayencebuchstaben verkündeten: Roi de Sicile, Zum König von Sizilien. Darunter standen Informationen in Hebräisch, Polnisch und anderen, unverständlichen Sprachen, wahrscheinlich auch in Russisch.
Daneben erhob sich ein Gerüst, unter dem man die Reste eines Wohnhauses erkennen konnte, das mit Balken abgestützt werden mußte.
Es regnete immer noch. Aber der Wind drang nicht bis zu diesem schmalen Gang durch.
Maigret hörte, wie in der dritten Etage ein Fenster zugeschlagen wurde. Er zögerte nicht länger als der Russe und trat in das Hotel.
Keine Tür in dem ganzen Flur. Eine Treppe. Im Zwischengeschoß befand sich eine Art verglaste Loge, in der eine jüdische Familie beim Essen saß.
Der Kommissar klopfte, aber anstatt die Tür zu öffnen, wurde eine Schalterscheibe hochgeschoben. Ein ranziger Geruch drang heraus. Der Jude hatte ein schwarzes Käppchen auf dem Kopf. Seine korpulente Frau aß ruhig weiter.
»Was wünschen Sie?«
»Polizei! Den Namen des Mieters, der eben hereingekommen ist.«
Der Mann murmelte etwas in seiner Muttersprache, holte ein klebriges Verzeichnis aus einer Schublade und schob es ihm wortlos durch den Schalter.
Im selben Augenblick merkte Maigret, daß ihn jemand aus dem unbeleuchteten Treppenhaus beobachtete. Er drehte sich kurz um und sah ein Dutzend Stufen über ihm ein Auge leuchten.
»Welches Zimmer?«
»Zweiunddreißig …«
Er blätterte in dem Verzeichnis und las:
»Fedor Jurowitsch, 28 Jahre, geboren in Wilna, Arbeiter, und Anna Gorskin, 25 Jahre, geboren in Odessa, ohne Beruf.«
Der Jude hatte sich wieder hingesetzt und aß wie jemand, der ein ruhiges Gewissen hat. Maigret trommelte gegen die Scheibe. Der Hotelier stand langsam und unwillig auf.
»Wie lange wohnt er schon hier?«
»Fast drei Jahre.«
»Und Anna Gorskin?«
»Sie war vor ihm hier … Vielleicht viereinhalb Jahre …«
»Wovon leben sie?«
»Sie haben ja gelesen, er ist Arbeiter.«
»Hören Sie mal!« äußerte Maigret in einem Ton, daß sein Gesprächspartner seine Haltung schnell änderte.
»Das übrige geht mich nichts an, oder?« sagte er ergebener. »Er bezahlt regelmäßig. Er geht, er kommt, und es ist nicht meine Aufgabe, ihm hinterherzulaufen.«
»Bekommt er Besuch?«
»Hin und wieder … Ich habe mehr als sechzig Mieter, und ich komme nicht dazu, sie zu überwachen … Solange sie nichts Schlimmes tun … Übrigens, da Sie von der Polizei sind, müßten Sie das Haus kennen … Meine Eintragungen sind immer in Ordnung … Inspektor Vermouillet wird es Ihnen bestätigen … Er kommt jede Woche …«
Maigret drehte sich unversehens um und rief:
»Kommen Sie herunter, Anna Gorskin!«
Man hörte ein leichtes Geräusch auf der Treppe, dann Schritte. Schließlich trat eine Frau ins Licht.
Sie schien älter als die angegebenen fünfundzwanzig Jahre zu sein. Das lag wahrscheinlich an ihrer Herkunft. Wie viele Jüdinnen ihres Alters war sie füllig geworden, ohne jedoch eine gewisse Schönheit zu verlieren. Die tiefdunklen Pupillen im leuchtenden Weiß ihrer Augen waren auffallend.
Aber etwas Nachlässiges in ihrer übrigen Erscheinung zerstörte diesen Eindruck. Ihre schwarzen, fettigen, ungekämmten Haare fielen in dicken Strähnen auf die Schultern. Sie war in einen abgetragenen Morgenmantel gehüllt, der etwas offenstand und die Unterwäsche sehen ließ. Die Strümpfe waren über ihren plumpen Knien aufgerollt.
»Was haben Sie da auf der Treppe gemacht?«
»Ich bin hier zu Hause …«
Maigret spürte sofort, mit welcher Sorte Frau er es zu tun hatte. Sie war leidenschaftlich und frech und suchte Streit. Beim geringsten Anlaß würde sie einen Skandal heraufbeschwören, alle Hausbewohner aufwiegeln, gellend schreien und zweifellos die unwahrscheinlichsten Anschuldigungen erheben.
Vielleicht hielt sie sich für unangreifbar. Jedenfalls blickte sie den Feind herausfordernd an.
»Sie sollten sich besser um Ihren Liebhaber kümmern …«
»Das ist meine Sache …«
Der Hotelier wiegte sein bekümmertes und vorwurfsvolles Gesicht hinter dem Guckloch von links nach rechts und von rechts nach links, aber seine Augen lachten.
»Wann hat Fedor Sie verlassen?«
»Gestern abend … Um elf …«
Sie log! Das war völlig klar! Aber es hätte nichts genützt, sie vor den Kopf zu stoßen. Oder man hätte sie einfach an den Schultern packen und abführen müssen.
»Wo arbeitet er?«
»Wo es ihm gefällt …«
Ihre Brust bebte unter dem schlechtsitzenden Morgenrock. Ihr Mund verzog sich boshaft, verächtlich.
»Was will die Polizei von Fedor?«
Maigret zog es vor, ziemlich leise zu sagen:
»Verziehen Sie sich nach oben!«
»Ich gehe, wenn es mir paßt! Sie haben mir keine Befehle zu erteilen!«
Warum sollte er darauf antworten und einen grotesken Zwischenfall herbeiführen, der der Untersuchung nur schaden würde? Maigret schloß das Eintragungsbuch wieder und reichte es dem Hotelier zurück.
»In Ordnung, nicht wahr?« stieß der hervor und gab der jungen Frau ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten.
Doch sie blieb bis zum Schluß, die Fäuste in die Hüften gestemmt, die eine Hälfte des Körpers im Licht, das aus der Loge fiel, die andere im Dunkeln.
Der Kommissar sah sie noch einmal an. Sie hielt seinem Blick stand und konnte sich nicht verkneifen zu murmeln:
»Oh, vor Ihnen habe ich keine Angst!«
Er zuckte die Schultern, stieg die Treppe hinab und streifte dabei rechts und links die getünchten Wände.
Im Hausflur stieß er auf zwei Polen, die keine Kragen trugen und die Köpfe bei seinem Anblick abwandten. Die Straße war naß, auf dem Pflaster spiegelte sich das Licht.
In allen Ecken, an den winzigsten schattigen Stellen, in den Sackgassen und Durchgängen ahnte man ein Gewimmel von Menschen, ein heimliches, verschämtes Leben. Schatten strichen an den Mauern entlang. Die Händler verkauften Waren, deren Namen die Franzosen nicht einmal kennen.
Kaum hundert Meter weiter befinden sich die Rue de Rivoli und die Rue Saint-Antoine, breite, helle Straßen mit ihren Omnibussen, ihren Schaufenstern, ihren Schutzmännern …
Maigret blieb stehen und hielt einen vorbeirennenden Jungen an der Schulter fest, der Ohren wie Kohlblätter hatte.
»Hol mir einen Polizisten von der Place Saint-Paul …«
Doch der Bursche sah ihn nur erschrocken an, antwortete etwas Unverständliches. Er konnte kein Wort Französisch.
Der Kommissar wandte sich an einen zerlumpten Mann: »Hier sind hundert Sous … Bring diesen Zettel dem Schupo an der Place Saint-Paul …«
Der Stromer begriff. Zehn Minuten später war ein uniformierter Polizist zur Stelle.
»Rufen Sie die Kriminalpolizei an, sie sollen mir sofort einen Inspektor schicken … Möglichst Dufour …«
Noch eine gute halbe Stunde ging er auf und ab. Leute betraten das Hotel, andere verließen es. Aber immer brannte in der dritten Etage hinter dem zweiten Fenster von links das Licht.
Anna Gorskin erschien in der Tür. Sie hatte einen grünlichen Mantel über ihren Morgenrock geworfen. Sie trug keinen Hut, und trotz des Regenwetters hatte sie nur rotseidene Sandalen an.
Sie tappte über die Straße. Maigret verbarg sich im Dunkeln.
Sie ging in einen Laden, aus dem sie ein paar Minuten später mit zahllosen weißen Päckchen und zwei Flaschen unterm Arm wieder herauskam, dann verschwand sie in dem Haus.
Endlich traf Inspektor Dufour ein. Er war fünfunddreißig Jahre alt, und er sprach ziemlich fließend drei Sprachen, was ihn trotz seiner Angewohnheit, die einfachsten Geschichten zu verkomplizieren, recht wertvoll machte.
Aus einem gewöhnlichen Einbruch oder einem Taschendiebstahl konnte er ein geheimnisvolles Drama machen, über dem er selbst den Kopf verlor.
Aber bei einem klaren Auftrag, wie einer Überwachung oder Beschattung, arbeitete er dank seiner ungewöhnlichen Ausdauer hervorragend.
Maigret gab ihm die Personenbeschreibung von Fedor Jurowitsch und seiner Geliebten.
»Ich werde dir einen Kollegen schicken. Wenn einer von beiden das Haus verläßt, folgst du ihm, aber jemand muß hier als Wache bleiben … Verstanden?«
»Immer noch die Geschichte mit dem Nordexpreß? Ein Schlag der Mafia, was?«
Der Kommissar zog es vor, zu gehen. Eine Viertelstunde später war er am Quai des Orfèvres, schickte einen Kollegen zu Dufour und beugte sich über seinen Ofen, wobei er auf Jean schimpfte, der es nicht geschafft hatte, ihn zum Glühen zu bringen. Sein von der Nässe steif gewordener Mantel hing am Kleiderhaken und behielt die Form seiner Schultern bei.
»Hat meine Frau angerufen?«
»Heute morgen … Man hat ihr gesagt, daß Sie beruflich unterwegs sind …«
Sie war daran gewöhnt. Er wußte, daß sie bei seiner Rückkehr damit zufrieden sein würde, ihm einen Kuß zu geben, ihre Töpfe auf dem Herd hin und her zu schieben und einen Teller mit duftendem Ragout zu füllen. Sie würde, allerdings erst, wenn er am Tisch saß, höchstens wagen, ihn zu betrachten und, das Kinn in die Hände gestützt, zu fragen: »Wie geht’s?«
Mittags oder um fünf Uhr stand die Mahlzeit ebensogut für ihn bereit.
»Torrence? …« fragte er Jean.
»Er hat heute früh um sieben angerufen …«
»Vom Majestic?«
»Ich weiß nicht. Er hat gefragt, ob Sie weg sind.«
»Und weiter?«
»Heute nachmittag hat er um zehn nach fünf noch mal angerufen. Er läßt Ihnen ausrichten, daß er auf Sie wartet.«
Maigret hatte seit dem Hering am Morgen nichts gegessen. Er blieb einen Augenblick vor seinem Ofen stehen, der zu bullern begann; denn er hatte ein einzigartiges Geschick, selbst die widerspenstigsten Kohlen zum Brennen zu bringen.
Dann ging er schwerfällig zum Wandschrank, in dem sich ein Emailwaschbecken, ein Handtuch, ein Spiegel und ein Koffer befanden. Er zog den Koffer mitten ins Büro, entkleidete sich, zog trockene Sachen und frische Wäsche an und fuhr zögernd mit der Hand über sein unrasiertes Kinn.
»Ach was!«
Er warf einen genüßlichen Blick auf das prasselnde Feuer, stellte zwei Stühle hin und breitete seine durchnäßten Kleidungsstücke darauf aus. Auf seinem Schreibtisch lag noch ein Sandwich von der vergangenen Nacht, und er verschlang es im Stehen, zum Weggehen bereit. Nur Bier war keins mehr da. Und er hatte eine recht trockene Kehle.
»Falls irgend etwas Wichtiges sein sollte, ich bin im Majestic«, sagte er zu Jean. »Dort kann man mich anrufen.«
Und dann ließ er sich in das Polster eines Taxis fallen.